15/07/2024 von Dr. Rita Bourauel
Ein Paradies für den Fußverkehr
Keine Verkehrstoten und mehr Lebensqualität in der Stadt
Kein einziger Mensch zu Fuß unterwegs auf den Straßen der nordspanischen Küstenstadt Pontevedra ist seit 2011 tödlich verunglückt. Die Stadt mit knapp 80.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist seit mehr als 20 Jahren autoreduziert. 1999 wurde als erstes die Altstadt zur Fußgängerzone, dann folgten immer mehr Teile der Neustadt. Der Fußverkehr hat immer Priorität und dominiert heutzutage den Verkehr.
In der Stadt stehen Informationstafeln für den Fußverkehr mit Entfernungen und Kalorienverbrauch zu bestimmten Zielen. Die Beleuchtung nachts wurde optimiert und passt sich den aktuellen Lichtverhältnissen an. So soll neben der Sicherheit für den Fußverkehr, die Lichtverschmutzung reduziert werden. 15.000 Parkplätze, die teilweise kostenfrei sind, wurden am Rande des Zentrums gebaut. Lieferfahrzeuge und Autos im Stadtzentrum dürfen nur 10 km/h fahren. Ihre Zufahrt und das Parken ist nur für einen kurzen Zeitraum erlaubt. Das wird von der Polizei genau kontrolliert. Der Stadtrat von Pontevedra hat 2019 eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 10 km/h auf allen Straßen im Stadtzentrum, die gleichzeitig von Fußgängern und Autos genutzt werden, eingeführt. Zuvor, im Jahr 2010, galt eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h auf allen städtischen und stadtnahen Straßen. Pontevedra war die erste Stadt in Spanien, die dies tat. Die Stadt wurde 2014 von der Uno zur lebenswertesten Stadt Europas gekürt. Die Menschen und auch die Geschäftsleute in Pontevedra sind glücklich und zufrieden mit ihrer Stadt. Das war nicht immer so, anfangs gab es auch Proteste und sogar Prozesse. Mittlerweile haben sich viele neue Geschäfte niedergelassen. Grünflächen wurden geschaffen, wo früher Autos parkten. Bevor der Wandel vor 20 Jahren eingeleitet wurde, gab es in Pontevedra viele Autos und Staus. Doch der Bürgermeister Miguel Anxo Fernández Lores, seit 1999 im Amt, wollte weniger Autos und mehr Menschen auf den Straßen haben. Nein, er ist kein Autohasser. Gegen Autos auf der Autobahn oder außerhalb der Stadt hat er nichts, aber in der Stadt ist es zu eng für Autos.
„Weniger Autos in der Stadt bedeutet mehr Lebensqualität und weniger Luftverschmutzung und CO2-Ausstoß. Erst sind viele dagegen, die Angst vor Veränderungen haben. Später will keiner mehr zum autoverstopften Zustand zurück“, sagt Prof. Dr. Stefan Rahmstorf, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. „Städte, die sich neben einem gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr und ausreichend Stadtgrün durch eine gut entwickelte Fuß- und Radverkehrsinfrastruktur auszeichnen, gelten als besonders lebenswert. Daher sollte die Bedeutung des Fußverkehrs für eine nachhaltige Entwicklung der Städte in Deutschland noch stärker betont werden. Tägliche Mobilitätsziele sollten für alle auch ohne Auto erreichbar und zugänglich sein, idealerweise in kurzer Distanz zu Fuß oder per Fahrrad.
Autos, auch parkende, brauchen in der Stadt viel Platz. Ein sogenanntes Gehzeug, ein Holzgestell, mit dem man spazieren gehen kann, zeigt eindrucksvoll, wie viel mehr Platz ein Auto im Vergleich zum Menschen zu Fuß einnimmt. Erdacht und gebaut hat es der Verkehrsexperte Prof. Dr. Hermann Knoflacher von der TU Wien bereits im Jahr 1975. Ein einfaches Lattengerüst in der Größe eines Mittelklassewagens (4,30 x 1,70 m), den sich ein Mensch zu Fuß umhängen kann, fertig ist das Gehzeug. Es wird vor allem in Österreich verwendet. In seiner Heimatstadt Wien wurde die Innenstadt immer mehr für die Menschen zu Fuß zurückgewonnen.
Gleichwohl die Verkehrssicherheits- und Umweltproblematik in Deutschland seit den 70er-Jahren bekannt ist, boomt in Deutschland der Individualverkehr weiter. Rund 69,1 Millionen Fahrzeuge waren, laut Kraftfahrtbundesamt (KBA), am 01. Januar 2024 zugelassen. In den letzten Jahren sind die Autos immer größer, breiter und länger, geworden. Es gibt immer mehr Autos und Staus in deutschen Städten. Köln, München, Hamburg, Stuttgart, Dresden und auch andere Großstädte ächzen unter der Autodichte. Staus, zugeparkte Flächen und keine Parkplätze sind die Folge. Immer mehr Menschen möchten stadtnah wohnen. Einerseits will man auch in der Stadt gute Luft und wenig Autoverkehr haben, andererseits schnell, bequem und auch bei Regen trockenen Fußes zum Ziel kommen und greift zum Auto. Viele sind egoistisch und denken zuerst an sich selbst. Die anderen sollen sich doch einschränken.
Zu Fuß unterwegs verunglückten im Jahr 2023, laut Statistischem Bundesamt, 437 Personen tödlich, darunter 254 Menschen im Alter von 65 Jahren und älter. Knapp 60 Prozent der tödlich Verunglückten sind männlich. Schwerverletzt wurden 5.368 Menschen im Fußverkehr. Die Verkehrssicherheit von zu Fußgehenden könnte besser sein, darin sind sich Experten einig. Einige Städte haben Verkehrsversuche zur Verkehrsberuhigung vereinzelter Straßen erprobt, z. B. die Deutzer Freiheit in Köln, die doch wieder eingestellt wurden.
Dabei kann durch eine Geschwindigkeitsreduzierung die Verkehrssicherheit für zu Fuß Gehende, laut Fuss e. V., am effektivsten erhöht werden. Kein einziger Mensch zu Fuß oder auf dem Rad kam mehr zu Tode, nach der stadtweiten Einführung der Höchstgeschwindigkeit von Tempo 30 in Helsinki und Oslo. Auch Brüssel verzeichnete nach Einführung einer Regelgeschwindigkeit von 30 km/h einen starken Rückgang der Unfälle. Bei 30 km/h beträgt der rechnerische Anhalteweg eines Kfz etwa 13 Meter, bei 50 km 27 Meter, also mehr als doppelt so viel. Ein beträchtlicher Teil der bei Ausgangstempo 50 geschehenen Unfälle wäre bei 30 durch rechtzeitiges Anhalten vermieden worden. Die Unfallschwere steigt mit der Geschwindigkeit exponentiell: Nach diversen Studien ist die Sterbewahrscheinlichkeit eines mit 50 km/h angefahrenen Fußgängers etwa viermal höher als bei 30 km/h. Zudem braucht es mehr Querungshilfen von Fahrbahnen und an ihnen mehr Sicherheit. Ampeln müssen zur Vermeidung von Abbiegeunfällen häufiger konfliktfrei geschaltet sein. An problematischen Zebrastreifen sollten zusätzliche Maßnahmen wie Aufpflasterungen und die Einengung von Fahrspuren geprüft werden. Generell sind die Sichtbeziehungen zwischen Fahrenden und Gehenden zu verbessern, indem Halteverbotsbereiche an Einmündungen und weiteren Übergangsstellen ausgeweitet und Verstöße dagegen wirksamer sanktioniert werden.
Konzepte sind da. Es braucht mehr mutige Menschen, die für einen sicheren Fußverkehr, auch bei Gegenwind unpopuläre Entscheidungen in die Praxis umsetzen.
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